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Ovid, Metamorphosen III, 370 - 406

Narcissus und Echo

Ergo ubi Narcissum per devia rura vagantem            370

vidit1 et incaluit1, sequitur1 vestigia furtim,

quoque2 magis sequitur, flamma propiore calescit,

non aliter quam cum summis circumlita taedis

admotas rapiunt vivacia3 sulphura flammas.

o quotiens voluit blandis accedere dictis                  375

et mollis adhibere preces! natura repugnat

nec sinit, incipiat, sed, quod sinit, illa parata est

exspectare sonos, ad quos sua verba remittat.

forte puer4 comitum seductus ab agmine fido

dixerat: 'ecquis5 adest?' et 'adest' responderat Echo.   380

hic stupet utque aciem6 partes dimittit in omnes,

voce 'veni!' magna clamat: vocat illa vocantem.

respicit et rursus nullo veniente 'quid' inquit

'me fugis?' et totidem, quot dixit, verba recepit.

perstat7 et alternae8 deceptus imagine9 vocis               385

'huc coeamus!' ait, nullique libentius umquam

responsura sono 'coeamus!' rettulit Echo

et verbis favet10 ipsa suis egressaque silva

ibat, ut iniceret11 sperato bracchia collo;

ille fugit fugiensque 'manus complexibus12 aufer!          390

ante13 ait 'emoriar, quam14 sit tibi copia nostri';

rettulit illa nihil nisi 'sit tibi copia nostri!'

spreta latet silvis pudibundaque15 frondibus ora

protegit et solis16 ex illo vivit in antris;

sed tamen haeret amor crescitque dolore repulsae;17    395

extenuant vigiles corpus miserabile curae18

adducitque cutem19 macies20 et in aera sucus

corporis omnis abit; vox tantum atque ossa supersunt:

vox manet, ossa ferunt lapidis traxisse21 figuram.

inde latet silvis nulloque in monte videtur,                400

omnibus22 auditur: sonus est, qui vivit in illa.

Sic hanc, sic alias undis aut montibus ortas

luserat hic nymphas, sic coetus ante viriles;

inde manus aliquis despectus ad aethera tollens

'sic amet ipse licet, sic non potiatur amato!'             405

dixerat: adsensit precibus Rhamnusia23 iustis.
 

1 Subj. = Echo, Nymphe in Narcissus unglücklich verliebt; 2 quoque magis = et quo magis; 3 vivacia sulphura, Pl. n.: leicht entflammbarer Schwefel; 4 puer = Narcissus;  5 ecquis:etwa jemand;  6 aciem dimittere: seinen Blick richten; 7 perstare: stehen bleiben;  8 alterna vox: Antwort;  9 imago, inis f.: Eindruck; 10 favere + Dat: handeln nach; 11 sperato bracchia collo inicere: den ersehnten Hals zu umschlingen; 12 complexus, us: Umarmung;  13 ante: früher, vorher; 14 quam (ut): als dass; 15 pudibundus 3: verschämt;  16  solus 3: öde, einsam, menschenleer; 17 repulsa, ae: abschlägige Antwort, Abweisung; 18 vigiles curae, arum: der stets brennende Liebeskummer; 19 adducere cutem: die Haut runzeln, zusammenziehen; 20 macies, ei f.: Magersucht; 21 trahere, traxi, tractum: figuram trahere: Gestalt annehmen, bekommen; 22 (in) omnibus (montibus); 23 = Nemesis, die Göttin der Vergeltung

Übersetzungshilfen

BEGINNEN SIE IMMER BEIM VERB !!!               BEGINNEN SIE IMMER BEIM VERB !!!               BEGINNEN SIE IMMER BEIM VERB !!!

sinivagantem: Part.Praes.Akk.Sg.m. von vagari zu Narcissum (Part.coni.)
sequitur: 3.P.Sg.Ind.Praes.von sequi: sie folgt + Akk.: vestigia
flammá: Hebung des 4. Versfußes:  Abl.
summis: Abl.Pl.f. zu taedis: Praedikativ: an Spitzen von Fackeln
circumlita: P.P.P.Nom.Pl.n. von circumlinere: geschmiert, gestrichen zu sulphura
admotas: P.P.P.Akk.Pl.f. von admoveo: nahegebracht zu flammas
accedere: Inf.Praes.akt. sich wenden an, sich nähern - abhg. von voluit: (womit?: blandis dictis)
mollis: Akk.Pl.f. zu preces - betont! (beide Wörter auf der Endsilbe)
t: 3.P.Sg.Praes.akt.: er, sie, es lässt zu + Konj.(ohne ut)
remittat: 3.P.Sg.Konj.Praes.akt. von remittere - ad quos...
seductus: P.P.P.Nom.Sg.m. von seducere: getrennt (wovon?)
utque: wie, als temporal
veniente: Part.Praes.Abl.Sg.m. zu nullo - Abl.abs.
me fugis: du fliehst vor mir - fugio + Akk
totidem, quot: ebenso viele, wie zu verba
coeamus: 1.P.Pl.Konj.Praes. von coire: wir wollen uns vereinen - Konj.hort.
libentius: lieber - Adv.im Komp.
responsura: Part.Futur Nom.Sg.f. von respondere: sie wollte antworten - Part.coni.
favet verbis suis: 3.P.Sg.Ind.Praes.von favere: sie handelt nach ihren Worten (Dat.)
egressa: Nom.Sg.f. P..P.akt.von egredi Part.coni.
ibat: 3.P.Sg.Imperf.: sie ging, eilte
iniceret: 3.P.Sg.Konj.Imperf.von inicere - abhängig von ibat, ut: Finalsatz
auffer! 2.P.Sg.Imperativ - Kurzimperativ: nimm weg!
emoriar: 1.P.Sg.Konj.Praes.von emori: ich möchte, will sterben Konj.opt.
sit: 3.P.Sg.Konj.Praes.von esse - abhg.von quam (ut)
nostri: Gen.obj. Plur. maiestaticus =mei: über mich
nihil nisi: nichts außer, nur
sit: 3.P.Sg.Konj.Praes.von esse: Konj.iuss.: sei, soll sein
spreta: Nom.Sg.f.P.P.P.von spernere: verachtet, verschmäht  - Part.coni.
ex illo (tempore): seitdem
ferunt: man sagt, dass sie; sie sollen + AcI
ortas: Akk.Pl.f.P.P.akt.von oriri: ortus + Abl.orig.
ante: schon früher - Adv.
amet: 3.P.Sg.Konj.Praes.von amare: er mag lieben - Konj.concess.
potiatur: 3.P.Sg.Konj.Praes.von potiri + Abl. - Konj.concess.

Übersetzung

Sobald sie (= Echo) also Narcissus durch entlegene Felder wandern sah und sich für ihn begeisterte, folgte sie heimlich seinen Spuren und je mehr sie ihm folgt, um so mehr erglüht sie von der näheren Flamme, nicht anders, als wenn leicht entflammbarer Schwefel an  Fackelspitzen  gestrichen nahegebrachte Flammen an sich reißt. O wie oft wollte sie mit zärtlichen Worten sich an ihn wenden und sanfte Bitten hinzuziehen. Ihr Wesen verwehrt es und erlaubt es nicht anzufangen, aber was es gestattet, dazu ist jene bereit, auf Laute zu warten, um darauf eigene Worte zurückzugeben.
Zufällig getrennt von der treuen Schar der Begleiter hatte Narcissus gerufen: „ist etwa jemand da?“ und „ist da“ hatte Echo geantwortet. Dieser staunt und wie er den Blick nach allen Seiten richtet, ruft er mit lauter Stimme: „Komm!“ Jene ruft den, der sie ruft. Er blickt sich um und als wiederum niemand kam, sagte er: „Warum fliehst du vor mir?“ und ebenso viele Worte, wie er gesprochen hatte, erhielt er zurück. Er bleibt stehen und getäuscht vom Eindruck einer Antwort sagt er: „Hier wollen wir uns vereinen!“ und Echo, die keinem Wort lieber antworten wollte, rief zurück: „Wir wollen uns vereinen!“ Sie selbst handelt nach ihren Worten, trat aus dem Wald und eilte, um den ersehnten Hals zu umschlingen; Jener flieht und im Fliehen sagt er: „Lass die Umarmung! Eher will ich sterben, als dass du Gewalt hast über mich!“ Jene antwortete nur: „du habest Gewalt über mich!“ Verschmäht versteckt sie sich in den Wäldern, schützt ihr verschämtes Antlitz mit Laub und lebt seitdem in einsamen Höhlen. Aber dennoch haftet die Liebe und wächst mit dem Schmerz der Abweisung; der stets  brennende Liebeskummer verzehrt den armseligen Körper, Magersucht runzelt die Haut und jeglicher Körpersaft entweicht in die Luft; nur Stimme und Knochen sind übrig. Die Stimme bleibt, die Gebeine sollen die Gestalt von Stein angenommen haben. Von da an verbirgt sie sich in den Wäldern und man sieht sie auf keinem Berg, sie wird aber auf allen gehört: der Schall ist es, der in jener noch lebt. So hatte Narcissus diese, so auch andere Wasser- und Bergnymphen verspottet, so auch vorher schon Scharen von Männern; da hatte irgendein Verschmähter die Hände zum Himmel erhoben und gefleht: „So mag er sich selbst nur lieben und so, was er liebt nie erlangen: den gerechten Bitten stimmte die Göttin der Gerechtigkeit zu.
So hatte Narcissus diese Nymphe, so andere Quell- oder Bergnymphen verspottet, so auch schon früher Scharen von Liebhabern; ein Verschmähter hatte dann seine Hände zum Himmel erhoben und gesagt: "So mag er sich selbst nur lieben und so den Geliebten nicht besitzen!" Rhamnusia, die Göttin der Vergeltung, stimmte den gerechten Bitten zu.

Versmaß

 


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